Klassenzimmer
Kleinweich

Wir befinden uns im Jahr 2019. Die ganze Welt ist von einem Virus befallen. Die ganze Welt? Nein! Ein von unbeugsamen Bayern bevölkertes Dorf hört nicht auf, dem Eindringling Widerstand zu leisten.
Dieses Dorf heißt Kleinweich. In Kleinweich hat man ähnliche Probleme wie überall auf der Welt. Corona stößt auf jede neue Inzidenz an und feiert sich selbst, nur Wirecard liefert bessere Zahlen. Der eine geht insolvent und der andere verursacht einen Lockdown, der eigentlich nur ein echter Hausarrest für Kinder und Jugendliche ist, denn die Schulen sind dicht. Und tatsächlich könnte man meinen, Bill Gates hätte dafür gesorgt. Denn Microsoft Teams breitet sich in deutschen Schulen rasant aus.
München, Bremen, Rostock, in der Bundesliga Erzrivalen, jetzt alle in einem Team. Nur in Kleinweich will man nicht.
München:
Jeden Tag um 8.00 Uhr Morning Call, wenn schon Denglisch. Ein Lehrer starte ein Videomeeting mit einer Wand. Nur eine Kamera läuft, der Lehrer zeigt sich. Auf der anderen Seite des Glasfasernetzes verfangen sich Buchstabendoppelkombinationen in kleine Planquadrate, die Auskunft über die Identität des Gegenübers geben könnten.
Kleinweich:
Man weigert sich. Schule oder nichts! Jeden Tag um 8.00 Uhr passiert - nichts. Es wird Frühling. Vögel wecken die Kinder.
Bremen:
Nach der Entzifferung des Codes fehlen zwei Schüler, BM und VW. Der Lehrer klingelt an und erledigte Eltern antworten. Sie müssten auch Arbeiten, nein, nicht daheim, im Homeoffice. Man habe nicht genügend Endgeräte und wie funktioniere dieses Team überhaupt. Was mit dem Datenschutz sei, wo man die Arbeitsblätter der letzten Stunde finden könne, ob der BM nicht zehn Minuten später kommen könne, dann könnte er einen PC für sich alleine benutzen und überhaupt käme der Bus ja meistens auch zu spät.
Kleinweich:
Die Eltern sitzen in Ihrem Arbeitszimmern. Die Kinder machen sich Frühstück, räumen die Spülmaschine ein und legen sich mit einem Buch auf’s Bett: „Der Sonnenstaat“.
Rostock:
Die erste Stunde hat begonnen, Englisch, was sonst. Bei AH geht der Ton nicht. PC konnte das Arbeitsblatt nicht ausdrucken. KK hat nur ein Handy und die Schrift ist zu klein. Man liest GO, entschuldigung, George Orwell, 1984. Eine Dystopie. Die Sprache wird von schädlichen Begriffen gereinigt, überall Telescreens, „Unwissenheit ist Stärke“, „Krieg ist Frieden“, „Freiheit ist Sklaverei“.
Kleinweich:
In Kleinweich genießt man sie. Auch wenn die Kinder jetzt selber kochen, einkaufen gehen. Man hat ja Zeit.
Hamburg:
DD ist schon wieder rausgeflogen oder hat GG das gemacht. Zweite und dritte Stunde Mathe, einer redet, PP-Folien öffnen und schließen sich. Auf WA jagt ein Scherz den anderen. Ein Bildschirm läuft, der andere läuft heiß.
Kleinweich:
Beim Einkaufen haben sich Bene Mair und Volki Werner getroffen und haben sich Witze erzählt, es ist etwas später geworden. Egal.
Dortmund:
DD! Doppelstunde Deutsch. Keiner hat das Buch gelesen. Juli Zeh, Corpus Delicti. Das Unterrichtsgespräch gestaltet sich schwierig. „Dem wahren Menschen genügt das Dasein nicht, wenn es ein bloßes Hiersein meint. (…) Weißt Du, wann unsere Welt endlich sicher sein wird? Wenn alle Menschen in Reagenzgläsern liegen, ohne die Möglichkeit sich zu berühren! Was soll denn das Ziel dieser Sicherheit sein? Ein Dahinvegetieren im Zeichen einer falsch verstandenen Normalität? Erst wenn eine einzige Idee über die der Sicherheit hinausgeht, erst dort, wo der Geist seine physischen Bedingungen vergisst und sich auf das Überpersönliche richtet, beginnt der allein menschenwürdige, im höheren Sinne folglich der allein Normalzustand“ (Moritz Holl in Juli Zeh, Corpus Delicti S. 92f., Fischer 2010)
„Wie definiert Moritz Holl das Leben, was meint er?“
Eine Wand spricht nicht.
„Das Leben ist ein Angebot, was man auch ablehnen kann“ (Moritz Holl, ebd. S. 28)
Kleinweich:
„Das Leben ist ein Angebot, was man auch ablehnen kann!“ Bene Mair zu Volki Werner, als er ihn nach Mittagessen und Tisch abräumen zu einer Bergtour überredet hat.
Freiburg:
In Freiburg fährt man jetzt auch Auto. GTA, kein Name ein Computerspiel auch online. In der Schule ist Pause. Es gibt noch Online-Hausaufgabe und Hausaufgaben, die man online stellen muss. Eltern kommen ins Zimmer, sie brauchen den Computer und warum spielst Du schon wieder. World of Warcraft analog. Aber jetzt Call of Duty. Also Hausaufgaben, dann geht das nicht mit dem Computer.
Kleinweich:
Ben und Volki sind oben. Sie haben Vogelraten, Baumraten, Pilzeraten gespielt. Sie wussten mehr als letzte Mal. Jetzt sind sie platt und lassen sich ein Bad ein.
Hof:
Sozialkunde, online, Sozial-kunde - online! Man bespricht Manfred Spitzer, „Digitale Demenz! Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen“ „Wenn Kinder und Jugendliche ihren Nachmittag mit PC-Spielen verbringen, finde ich das bedenklich. Sie lernen da im günstigsten Fall Unnützes, im schlimmsten Fall für die Gesellschaft und für sich Gefährliches. Denn sie lernen, weil das Gehirn immer lernt, wenn es gebraucht wird.“
„ ALTER!“
Berlin:
Biologie. Es geht um die Krankheit Multiple Sklerose, kurz MS. Eine Krankheit mit tausend Gesichtern schreibt das Deutsche Zentrum für Neurologie 2011. Sehstörungen, Augenschmerzen, Lähmungserscheinungen…
Düsseldorf:
Sportuntericht - der Lehrer kämpft sich durch sein Wohnzimmer. Fitness online. Hinter der Wand bekommen die Kinder einen Krampf im Daumen. Das Handyspiel „Clash of Clans“ hat Hochkonjunktur. Noch vier, noch drei, noch zwei, noch eins! Super gemacht, bis nächsten Dienstag.
Kleinweich:
Suppe gemacht und Feuer. Wie jeden Dienstag. Man spielt ein Brettspiel. Risiko.
2021
München, Bremen, Rostock, Hamburg, Dortmund, Freiburg, Hof, Berlin, Düsseldorf:
Der dritte Lockdown steht vor der Tür. „MS TEAMS startklar machen!!!“ werden die Lehrer angemahnt. “MS TEAMS startklar…, MS TEAMS…, MS … " hallt es durch die Schulflure.
Kleinweich:
Weihnachten steht vor der Tür. Vielleicht wird es wieder eine staade Zeit. Die Kinder sind zusammengewachsen. Ein echtes Team.
Trotzdem! Lehrer Block
Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus vom 27. August 2021, Az. VII.3-BS4400-6a.79 344
Die Stärkung des Lebenswelt- und Praxisbezugs ist ein zentraler Auftrag an die schulische Bildung. Ein wichtiger Beitrag auf dem Weg der jungen Menschen ins Erwachsenenalter ist die Förderung der Alltagskompetenzen. Sie umfassen die Kompetenzen, die im Privat- und im Erwerbsleben benötigt werden, um das eigene Leben selbständig und sinnvoll zu gestalten... Das Konzept „Schule fürs Leben“ zielt darauf ab, über Praxiswochen bzw. Praxismodule den Lebensweltbezug im schulischen Alltag deutlich zu stärken und selbstverständlich werden zu lassen.
In Kleinweich versteht man die Welt nicht mehr, aber draußen ist es schön.
P.S.: Liebes KM! "Fürs" ist kein deutsches Wort. Es verlangt nach einem Apostroph, da es für für + das steht. Auch wenn der Dativ der Tod des Genitivs ist, ist "fürs" leider kein Genitiv. Korrekt wäre also "Schule für's Leben". Wie sieht denn das im Alltag aus, wenn man mal eine offizielle E-Mail schreibt oder eine kultusministerielle Bekanntmachung?!