Turnhalle
Als ich ein kleiner Junge war
Als ich ein kleiner Junge war, war vieles anders als heute. Als ich ein kleiner Junge war, durfte ich beispielsweise eine halbe Stunde am Tag fernsehen. Gefühlt waren es die wohl wertvollsten dreißig Minuten des Tages. Tom und Jerry, Jonathan Hart, Michael Knight und Colt Seavers wurden meine Freunde, mit einem „Trio mit vier Fäusten“ habe ich mich durchgeschlagen. Die Sendungen dauerten etwas länger, aber es war noch im Rahmen der elterlichen Kulanz.
Kompliziert wurde das ausgefuchste System meiner Eltern nur in Zeiten wie diesen. Zur Fußballeuropa-, bzw. Fußballweltmeisterschaft. Denn selbst der letzte Laie kann sich der Erkenntnis, dass ein Spiel 90 Minuten dauert, nicht verweigern. Manchmal ist es sogar dann noch nicht vorbei, sonst wären 2008 nämlich die Tschechen und nicht die Türken ins Viertelfinale eingezogen und 1999, ach 1999.
Nun, die 30 Minuten Fernsehen verfielen am selben Tag. Ich konnte also nicht vier Tage lang bei den grauen Herren aus Michael Endes Kinderbuch „Momo“ Zeit ansparen, um sicher gehen zu können, dass ich ein Spiel der deutschen Mannschaft samt Verlängerung verfolgen hätte können. Gerade mal zu 15 Minuten Verlängerung ließen sich meine Eltern erweichen. Das waren nun 45 Minuten, eine Halbzeit, und selbst die durfte ich nicht frei wählen. Die erste Spielhälfte musste es sein, weil sonst zu spät und ich in der Schule zu müde.
Sie können sich vorstellen, zu welch traumatischen Erlebnissen dies führte. So ging ich nach der ersten Halbzeit des WM-Finals 1982 hoffnungsfroh beim Stande von 0:0 ins Bett, träumte vom Titel und erwachte im Albtraum. Italien war Weltmeister, ich hatte verloren. Im ehrlichen Glauben, ein solches Unglück allein durch meine Anwesenheit vor dem Fernseher verhindern zu können, 1974 war ich schließlich als Weltmeister geboren worden, versuchte ich am EM-Finaltag 1988, meine Eltern von der Notwendigkeit meiner TV-Präsenz zu überzeugen. Diese aber waren uneinsichtig, Holland siegte, schuld waren Mama und Papa.
Erst 1990, inzwischen war ich kein kleiner Junge mehr, konnte ich mich durchsetzen. Ich schaute jede Minute, jedes Spieles, Deutschland wurde in Rom Weltmeister und meine Theorie empirisch belegt.
Bis heute jedoch, habe ich meinen Eltern nicht verziehen. Nur die erste Halbzeit eines Fußballspiels anschauen zu dürfen ist wie ein Strandurlaub, bei dem man das Hotelzimmer nicht verlassen darf, wie ein Eis zu bekommen, welches man nur ansehen, aber nicht essen darf . Ich denke sogar, dass ein solches Vorgehen, weil Folter, verfassungswidrig ist, verzichte aber darauf meine Eltern vor Gericht zu zerren, wahrscheinlich greift hier ohnehin die Verjährung, der Titel ist ja ohnehin schon futsch.
Kleine Jungen und Mädchen von heute haben es da besser. In Bayern werden sie sogar von der obersten Bildungsbehörde geschützt. Kultusminister Siegfried Schneider appellierte im Sommermärchen 2006 im Sinne der Medienkampagne „Du bist Deutschland“ an die Lehrer, nach Deutschlandspielen keine Schularbeiten zu schreiben und nahm so dem Zu-spät-zu-müde-Argument der Eltern das Fundament. Ob sich die heutige Elterngeneration durch solche Schachzüge überlisten lässt? Überprüfbar ist es allemal. Denn wer ist schuld wenn Deutschland dieses Jahr in Katar nicht Weltmeister wird? Mama und Papa! Als ich ein kleiner Junge war, war das genauso.